Es gibt eine Reihe von neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die darauf hinweisen das Hilfsangebote vom Empfänger als Bedrohung des Selbstwertes oder der eigenen Autonomie empfunden werden können. Da das Gehirn Bedrohungen aller Art erstmal mit denselben Automatismen begegnet, kann ein gut gemeintes Hilfsangebot also so bedrohlich „wirken“ wie die Wegnahme von Essen oder die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und infolgedessen eine „natürliche“ Reaktion auslösen – Wut!
Sichtbare und unsichtbare Hilfsangebote
So haben Bolger und Amarel in einem ausgetüftelten Experiment Studentinnen bei der Vorbereitung einer Rede, die sie zu einem persönlich relevanten Thema halten sollten zwei Arten von Hilfe bereitgestellt und dann die Stresslevel verglichen:
Zwei Studentinnen sollen sich unter hohem Zeitdruck auf ein persönlich relevantes Thema vorbereiten.
Eva wird dazu vor fremdem Publikum eine kurze Rede halten. Ines wird parallel dazu ein kurzes Essay schreiben. Eva hat die Chance ihre Rede kurz mit Ines zu üben. Kurz vor der Rede kommt Paul hinzu und fragt Ines, ob es noch Fragen gibt.
Was Eva nicht weiß: Ines ist Paul’s Komplizin und gebrieft, um Eva gleich unauffällig eine von zwei Arten von Hilfe anzubieten.
Ines antwortet also entweder: Nein. Aber Du, Eva, solltest in Deiner Rede das Wichtigste zuerst sagen! (sichtbare Hilfe) Oder: Ja, zum besseren Verstehen der Aufgabe für mich selbst. Ich glaube, es geht hier darum, das Wichtigste zuerst zu sagen? (unsichtbare Hilfe).
Die spannende Frage ist: Was lösen diese beiden Antworten jeweils bei Eva aus?
Ergebnis: Studentinnen, die „unsichtbare“ Hilfe bekommen hatten, hatten deutlich niedrigere Stresslevel als diejenigen, welche „sichtbare“ Hilfe erlebt hatten. Ähnliche Beobachtungen haben die Wissenschaftler auch beim Vergleich von angebotener und tatsächlicher erhaltener Hilfe gemacht: Tatsächliche Hilfe kann den Stress deutlich verstärken, während nur die Aussicht auf Hilfe zu einer Lockerung des Stresses führt.
Die Forscher vermuten dahinter, dass der Hilfeempfänger, diese Hilfe als einen Angriff auf seinen Selbstwert („Ich bin nicht gut genug, um es ohne Hilfe zu schaffen…“) und auf seine Autonomie („… und jetzt entscheidet auch noch jemand anders, wie es geht.“) empfindet . Seine Angst vor sozialer Bewertung wird verstärkt („Und wenn ich es dann immer noch nicht hinkriege…“) und gleichzeitig wächst sein Bewusstsein für eine ungünstige Situation („… werden diese Schwierigkeiten hier auch nicht besser!“). Hilfe!!!
Lass mich! Ich kann alleine!!!
Da Hilfsangebote meistens an Personen gemacht werden, die sich sowieso schon in einer misslichen Lage befinden und gerade Angst, Druck oder Stress erhöht wahrnehmen, stehen den potentiellen Empfängern komplexe, höhere Hirnfunktionen zur Problemlösung nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Stattdessen werden tiefer gelegene, evolutionär ältere Handlungsmuster abgerufen, die den Erfahrungen aus früheren Lebensphasen entsprechen – zum Beispiel kindliche Trotzmuster : „Lass‘ mich! Ich kann alleine!!!“
Keine „Hilfe“ mehr!
Was bedeutet das konkret für meine eigene Lern- und Führungsarbeit, in der Hilfsangebote ja ein wesentlicher Bestandteil sind:
- Unsichtbare Hilfsangebote machen: Ich versuche weniger zu fragen und vorzuschlagen, wenn jemand mich um Hilfe bittet … oder ich meine gebeten worden zu sein…, sondern fühle mich in die Situation ein und teile meine eigene Erfahrungen zu vergleichbaren Situationen.
- Distanz zu der Stress auslösenden Situation herstellen: Ich stelle Fragen, die einen Perspektivwechsel ermöglichen, z.B. „Was würde ein wirklich guter Autor an dieser Stelle schreiben?“
- Glaubhafte Bereitschaft zur Hilfe vermitteln: Ich überlege sehr genau, welche Hilfe ich wirklich bereit wäre zu geben und biete diese konkret und präzise an. Das kann so leicht sein, wie in der letzten Woche als ein geschätzter Kollege viel zu tun hatte und ich einfach nur gesagt habe, dass ich diese Woche für Kaffee und Mittagessen sorgen werde…
Quellen & Inspiration
Bolger, N. und Amarel, D. (2007) Effects of Social Support Visibility on Adjustment to Stress: Experimental Evidence, Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 92, No. 3, 458–475
Rock, D. (2008), SCARF: a brain-based model for collaborating with and influencing others, NeuroLeadership Journal, issue one
Hüter, Gerald (2009) ‚Neuer Lernprozess; Angst, Druck, Gehirn…‘ Vortrag auf dem dnn-Kongress, Köln
Kevin Ochsner (2012), ‚Social Regulation: How we help others manage emotions‘, Vortrag Neuropleadership-Summit, New York
Dieser Artikel ist zuerst auf learnical.com erschienen (28. November 2012) – Version 1.2.